- 12. Mai 2025
- Tradition & Innovation
- Elmar Brümmer
Hat jemand noch einen Plan?
Eine Kolumne über das innere Navigationssystem.

Jeder kennt die erlösenden Worte: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“ Ich bin also da. Aber wo bin ich eigentlich? Bin ich überhaupt selbst gefahren, oder einfach nur dieser – zugegebenermaßen angenehmen – Stimme nachgereist („Nach 323 Metern rechts…“)? Habe ich überhaupt wahrgenommen, warum ich abgebogen bin, wieso es unbedingt diese Route sein musste? Bin ich etwa selbst schon so automatisiert wie dieses Navigationssystem?
Als sich die Umgebung noch entfalten konnte
Wer seine Mitmenschen überraschen möchte, manche damit vielleicht auch erschrecken, der kann das ganz leicht tun. Es reicht schon die Fangfrage: Kannst Du eigentlich noch Kartenlesen? Zurück kommt dann meist ein Stirnrunzeln, bei vielen ein energisches Kopfschütteln oder die entsetzte Rückfrage: „Warum sollte ich?“ Praktisch jeder, den Autor inbegriffen, denkt mit Grausen daran, wie kompliziert es war, im Auto die Patent-Faltpläne erst auseinander und dann vor allem jemals wieder zusammen zu bekommen. Längst aber ist klar: sie helfen, sich zu entfalten. Im Wortsinn.

Vom rechten Weg abgekommen
Zugegeben, dass war tatsächlich eine dunkle Seite der Straßen-Karten-Romantik. Aber die Auseinandersetzung mit Wegen und Orten war vielleicht auch genau deshalb eine andere, intensivere. Wer die falsche Route gewählt hat, der wusste, dass er selbst schuld war, und hat es sich vielleicht auch deshalb gründlicher überlegt. Heute haben viele auch auf dem täglichen, immergleichen Weg zur Arbeit das Navi an – vielleicht auch nur, um zu sehen, wie viele Minuten langsamer oder schneller es im Gegensatz zum Vortag war. Aber ein Gefühl für Weite und Nähe schaffen sie trotz allem nicht.
Nicht alles auf eine Karte setzen
Karten besitzen keine Multi-Funktionen. Aber sie helfen, den Raum zu begreifen, sich selbst im Raum zu begreifen. Das ging schon als Kind, mit dem Finger über die Landkarte. Sozusagen die Trockenübung fürs Verreisen. Um nicht als hoffnungslos old fashioned abgestempelt zu werden, nimmt diese Kolumne jetzt die Künstliche Intelligenz zu Hilfe. Sie gibt sich bei der Streitfrage tatsächlich unparteiisch: „Eine Landkarte bietet eine umfassende Übersicht und ermöglicht ein besseres Verständnis von Entfernungen und Proportionen, während ein Navigationssystem eine präzise Wegführung und Echtzeitinformationen liefert.“

Plötzlich ist die Straße Grün
Verstanden, dass es um die eigene Weltanschauung geht. Die sollte einem generell keine KI abnehmen, jedenfalls wäre das beruhigender. Einen Plan haben oder keinen Plan haben, das ist höchst individuell. Aber wir bleiben dabei: ohne Software können sich reizvollere Perspektiven ergeben, mancher Umweg entpuppt sich als das genaue Gegenteil eines Irrwegs. Die reiseerfahrenen Kollegen vom Thevandog-Blog behaupten sogar: „Das Risiko, die Schönheit einer Region zu übersehen, kann kaum größer sein, folgt man seinem Navigationsgerät auf dem vorgeschlagenen Weg.“ Und sie folgen meist den grün gekennzeichneten Straßen auf den Karten, denn diese Farbe steht für „sehenswert“.
Karten bleiben der große Sehnsuchtsverstärker.

Merkst Du noch was?
Der Härtetest für den modernen Navigator, dessen maps sofort den nächstgelegenen Tierarzt oder eine Dönerbude auswerfen kann, kommt beim technischen Blackout: Kein Monitor, kein GPS, kein Netz – und schon ist verloren, wer nicht vorher wenigstens besondere Bauwerke oder markante Punkte in der Landschaft registriert und im Unterbewusstsein abgespeichert hatte. Im Altstadt-Gewirr von Barcelona hat das den Autor einmal gerettet. Er gibt aber auch gern zu, bei der Fahrt von Aachen nach Belgien nur aus dem Gedächtnis heraus dann plötzlich in Holland gelandet zu sein.
Wo wir wirklich hinwollen
Der aufmerksame Kollege aus der Redaktion lauscht gern solchen Geschichten, gibt aber zu bedenken: „Wir finden uns in aller Welt zurecht. Aber wenn wir nur von Stuttgart in den Schwäbischen Wald wollen, ist das ein kompliziertes Unterfangen, das anscheinend nicht mehr ohne technische Hilfsmittel zu bewerkstelligen ist.“ Natürlich sind digitale Routenplaner ein Fortschritt – was die Funktion angeht. Aber in Sachen Faszination ist es ein Rückschritt gegenüber der Landkarte. Denn die hilft uns besser zu verstehen, wie die Welt um uns herum aussieht. Aber die Entscheidung, wo wir wirklich hinwollen, die kann uns sowieso niemand abnehmen. Auch wenn es das Navi immer und immer wieder versucht.
